Raus aus dem Krieg

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1600 Kilometer liegen zwischen Bayreuth und Kiew. Wie nahe der Krieg dennoch ist, hat Privatdozent Dr. Rainer Abel von der Klinikum Bayreuth GmbH erfahren.

Seit dem 24. Februar 2022 ist nichts mehr, wie es war. Der russische Angriff gegen die Ukraine hat die Welt aus den Angeln gehoben. Nach Beginn dieses furchtbaren Krieges baute die Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten (FGQ) ein Safe House nahe der polnisch-ukrainischen Grenze auf, in dem Menschen mit Behinderung medizinisch versorgt wurden. Dort fanden sie und ihre Angehörige Schutz. Privatdozent Dr. Rainer Abel, Direktor der Klinik für Querschnittgelähmte an der Klinikum Bayreuth GmbH und stellvertretender FGQ-Vorsitzender, FGQ-Geschäftsführer Felix Schulte und Rafal Kander, der mitten im Kriegsgebiet Menschen mit Behinderung hilft, berichten. Über das Safe House. Über die verzweifelte Situation behinderter Menschen mitten im Krieg. Und darüber, wie ihnen weiterhin geholfen werden kann.


Wie hat das Projekt Safe House begonnen?

Felix Schulte: Das Projekt begann mit einem Art Notruf. Eine Rollstuhlorganisation, vergleichbar mit unserer Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten in Deutschland, arbeitete an einem grenzüberschreitenden Netzwerk, um Menschen mit Rückenmarksverletzungen in der Ukraine zu helfen. Die Kollegen haben mich als Geschäftsführer der FGQ angerufen und mich gebeten, in die Ukraine zu fahren, und zu sehen, was dort wirklich passiert. Ich bin kurz danach zur polnisch-ukrainischen Grenze gefahren, ein Helfer des Malteser Hilfsdienst hat mich begleitet. Wir wurden dort Zeugen von Situationen, die wir nur aus dem Geschichtsbuch aus dem Jahr 1945 kannten. Unzählige Menschen, Frauen, Kinder, alte Menschen auf der Flucht vor dem Krieg. Im Hintergrund die Einschläge, die Bombenangriffe der russischen Armee. Direkt an der Grenze kam ein Zug nach dem anderen an. Überfüllt mit Flüchtlingen. Tag und Nacht. Mittendrin waren Rollstuhlfahrer.

 

"Wenn der Luftalarm losging, sprangen alle aus ihren Autos und versteckten sich irgendwo. Nur die Rollstuhlfahrer nicht. Sie mussten sitzenbleiben und einfach hoffen, dass sie nicht getroffen werden."

Später dann haben wir Mascha aus Kiew kennengelernt. Nach den ersten Raketeneinschlägen hatte sie sich in ihr Auto geflüchtet. Sie wusste, dass sie nicht mehr in ihre Wohnung in einem Hochhaus zurückkehren konnte. Die Aufzüge funktionierten nicht mehr. Sie floh einfach nur Richtung Westen. Als sie über der Grenze war, erzählte sie uns, dass sich der Verkehr auf den Straßen überall staute. Wenn der Luftalarm losging, sprangen alle aus ihren Autos und versteckten sich irgendwo. Nur die Rollstuhlfahrer nicht. Sie mussten sitzenbleiben und einfach hoffen, dass sie nicht getroffen werden.

An dem Bahnhof kurz hinter der Grenze kam ein Rückenmarksverletzter an, man hatte ihn auf einer Trage festgebunden. Als die Helfer hörten, dass ich und jemand vom Malteser Hilfsdienst vor Ort waren, haben sie den Verletzten einfach vor unsere Tür gelegt. Ich habe ihn etwas abgeschirmt und Dr. Abel in Bayreuth angerufen. Ich habe ihm gesagt: Wir haben hier jemanden, wir brauchen Hilfe.
Wir sollten Fotos machen und sie ihm schicken. Als er die Bilder sah, sagte er: „Okay, das ist ein Grenzfall“ und dass wir ihn möglichst wenig bewegen und sicher lagern sollten. Er glaube nicht, dass es eine komplette Querschnittlähmung sei und mit richtiger Behandlung würde der Mann wohl wieder gehen können. Wir organisierten ein Rettungswagen, der ihn ins örtliche Krankenhaus brachte, um ihn zu stabilisieren.

Von dort aus kam er in unser Safe House. Dort blieb er sechs Wochen lang. Als er das Safe House verließ, konnte er tatsächlich wieder gehen. Das war etwas wirklich Großes.

Aus Mariupol kam eine an Multipler Sklerose erkrankte Frau. Wochenlang hatte sie in einem Keller gelegen, ohne dass sich jemand groß um sie kümmerte. Sie war kaum noch bei Bewusstsein. Wir organisierten einen Krankentransport über den Malteser Hilfsdienst direkt nach Dresden. Dort wurde sie behandelt. Später dann in wurde sie Bad Wildungen weiterbehandelt, dort gibt es eine spezielle Einrichtung für MS-Erkrankte.

Wir haben Rückenmarksverletzte aus dem Safe House nach Hamburg zum Rückenmarksverletztenzentrum, nach Bad Wildbad, einige nach Elmshorn und an viele andere Orte, auch in Österreich und Finnland, gebracht. Wir sind bis nach Utrecht in den Niederlanden gefahren. Jede Woche waren wir unterwegs. Insgesamt haben wir ungefähr 200 Menschen evakuiert, eher mehr. Unter ihnen war auch ein Paralympics-Sieger im Schwimmen, der in seiner Wohnung saß. Wir hatten viel zu tun.

Rafal ist nach Kiew und Odessa gefahren. Er war dort direkt im Kriegsgebiet.

"Wir fahren tief ins Land hinein. Russische Raketen zu sehen, ist dort nichts Ungewöhnliches."

Rafal Kander: Ich erinnere mich an ein Waisenhaus für behinderte Kinder, die ihre Eltern bei Bombenangriffen verloren hatten. Dort fiel mir ein dreijähriges Mädchen aus der Gegend von Bachmut auf. Sie war mit ihrem Vater geflüchtet, der Vater trat auf eine Mine und starb, sie wurde weggeschleudert und erlitt eine Wirbelsäulenverletzung. Sie kann nicht gehen. Ihre Mutter ist Alkoholikerin, niemand weiß wo sie ist. Es ist also niemand da, der sich um sie kümmern kann. Aber wir versuchen es. In ein paar Tagen fahre ich dorthin zurück, um zu sehen, ob es eine Veränderung der Situation gibt.
Wir fahren tief ins Land hinein. Russische Raketen zu sehen, ist dort nichts Ungewöhnliches. Jeden Tag gibt es mehrere Luftalarme. Die Menschen haben sich daran gewöhnt und neigen dazu, die Gefahr einfach zu ignorieren und sich nicht in Sicherheit zu bringen.

Gab es Situationen, in denen Sie als Helfer in Gefahr waren?
Rafal Kander: Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Möglich ist es. Wir sahen immer wieder Raketen, Drohnen über uns fliegen. Als wir nach Odessa gefahren sind, trugen wir Helme und schusssichere Westen. Vor jeder Stadt gibt es Checkpoints, an denen Soldaten kontrollieren. Die waren sehr freundlich zu den Menschen, die humanitäre Hilfe leisten. Sie haben uns geraten, eher nachts zu fahren, wenn wir näher an die Front kämen. Und auch dann nur mit wenig Licht, um den Heckenschützen zu entgehen. Über Heckenschützen haben wir uns wirklich Gedanken gemacht.

Wer gehörte zu Ihrem Team?
Felix Schulte: Wir hatten Fahrer vom Malteser Hilfsdienst aus Deutschland und anderen Ländern, dazu kamen einige Freiwillige. Insgesamt etwa 25 Personen, die ständig unterwegs waren. Rein in die Ukraine, zum Safe House, durch ganz Europa zu den Behandlungszentren. Zudem hatten wir sechs, sieben Leute im Safe House, die dort geholfen haben und von Facheinrichtungen kamen. Wir waren die ganze Zeit beschäftigt, ohne feste Schichten, weil man ja nie wusste, wann der nächste Verletzte eintreffen würde. Wir hatten Kontakt zu einem Chefarzt in einer Klinik in Kattowitz, der die Verordnung der Medikamente übernahm. Das war sehr hilfreich, besonders für Antibiotika. Und oft hatte ich Dr. Abel in Bayreuth  am Telefon und habe ihn gefragt, was wir als Nächstes tun sollen.  Krieg ist unvorhersehbar.

"Dieser Krieg wird gezielt gegen zivile Ziele und Menschen geführt."

Gibt es das Safe House noch?
Felix Schulte:  Nein, es war bis zum Herbst 2022 in Betrieb. Im September und Oktober haben wir die letzten Menschen von dort weggebracht.

Aber die Hilfe geht weiter?
Felix Schulte: Ja. Die Menschen, die im Safe House waren, sind alle weg - entweder im westlichen Teil der Ukraine oder im Ausland. Aber es kommen ständig neue dazu. Soldaten und Zivilisten, die Bombardierung endet nicht. Ich kenne keine Statistik, wie viele versehrt von der Front zurückkehren. Soldaten bekommen Hilfe, sie gelten als Veteranen. Aber niemand kümmert sich um die Kinder. Viele Waisen, die ihre Eltern verloren haben, brauchen medizinische Hilfe und Unterstützung. Dieser Krieg wird gezielt gegen zivile Ziele und Menschen geführt. Es gibt ein kleines Hilfswerk im Norden namens Agape, das wir unterstützt haben. Diese Teams organisieren Generatoren und alles, andere was irgendwie möglich ist. Das geht dann in die humanitäre und medizinische Versorgung.

Das heißt, Ihre Unterstützung und die der Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten in Deutschland wandelt sich?
Felix Schulte: Wir ziehen uns aus der unmittelbaren Hilfe zurück. Agape hat inzwischen ein Netzwerk in Deutschland aufgebaut. Die Autos, die wir genutzt haben, gehen an Agape. Gerade haben wir eine letzte Fahrt gemacht, um Hilfsgüter hinzubringen. Es braucht noch ganz viel Unterstützung, es kann gar nicht genug sein, aber wir können das nicht mehr leisten. Wir denken darüber nach, die Hilfe umzuschichten, um einzelnen vom Krieg schwer Betroffenen zu helfen. Zum Beispiel den Waisen. Zudem gibt Überlegungen mit Dr. Abel, in der Ukraine eine Struktur für Rückenmarksverletzte aufzubauen, damit sie im Land bleiben können. Wir hier in Deutschland sind schon überfüllt. Es gibt also einiges, das in Arbeit ist und hoffentlich mit internationaler Unterstützung vor Ort entstehen kann.

 

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Wiedersehen beim Mobilitästag an der Klinik Hohe Warte: Rafal Kander, Privatdozent Dr. Rainer Abel und FGQ-Geschäftsführer Felix Schulte gehören zum Team des Safe House für Menschen mit Behinderung, die aus der Ukraine flüchten müssen.

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Nahe der Grenze, schon auf polnischer Seite: In diesem Haus fanden Flüchtlinge Zuflucht und erhielten medizinische Versorgung.